Im heutigen Artikel geht es darum, wer in den neuen Arbeitsformen eigentlich führt und warum die ein oder andere Sichtweise auf das Thema aus meiner Sicht ein bisschen idiotisch ist.
Wer führt eigentlich?
Die Frage könnte sich stellen, wenn man von agilem Arbeiten, von selbstorganisiertem Teams und dem ganzen Kladderadatsch rund um das angeblich neue Arbeiten hört. Nicht nur, wenn das Thema für einen neu ist und man sich noch in der Orientierung befindet. Nein, auch wenn man sich länger mit dem Thema beschäftigt, kann die Frage schwer zu beantworten sein.
Früher war alles so viel einfacher.
In klassisch hierarchisch aufgestellten Unternehmen ist die Sache ja noch relativ klar: der oder die Vorgesetze führt, denn sie oder er ist per Dekret einer höheren Instanz dazu berufen und ohne jeden Zweifel der oder die Richtige für den Job.
Überhaupt ist man in klassisch hierarchisch aufgestellten Unternehmen – oder bei denen, die ihnen nacheifern – davon überzeugt, dass Führung etwas ist, das nur eine kleine Elite leisten kann. Die Anderen sind nämlich wahlweise zu faul oder zu unambitioniert dafür.
Darum ist eine Position als Team- oder Projektleiter oft der logische nächste Schritt auf der Karriereleiter und etwas, wofür man sich gefälligst angenommen, wertgeschätzt und respektiert zu fühlen hat. Klar, die obligatorische Gehaltserhöhung trägt auch ein bisschen dazu bei. Letzten Endes geht es aber darum, dass man in diesen kleinen, elitären Zirkel der Macht aufgenommen wurde, in dem nicht jeder Mitarbeiter einen Platz hat, wo nicht jeder mitspielen darf.
Der Rest wird geführt, denn die Mehrheit sind nur Follower.
Nicht nur eine Frage des Menschenbildes
Nun ist diese Herangehensweise nicht nur Ausdruck eines vermutlich gar nicht mal so treffenden Menschenbildes (siehe hierzu Artikel wie den von Nils Pflaeging über gängige Missverständnisse bezüglich Theorie-X-Menschen) sondern auch eine höchst ineffektive Herangehensweise.
Erstens ist nicht jeder, der per Dekret zur Führungskraft ernannt wird, automatisch dazu geeignet. Manchmal nicht mal nach vorherigem Coaching oder Mentoring durch den Chef des zukünftigen Chefs. Manchmal nicht mal durch die Aufschlauung in einem Führungsseminar nach dem Anderen.
Zweitens gibt es bei jeder Beförderung mindestens einen, der nicht befördert wird und das ist manchmal sogar der bessere Kandidat. Manchmal hält sich der Nichtbeförderte auch nur dafür oder glaubt jetzt mal an der Reihe zu sein. So oder so ist das gar nicht mal so gut für die Laune der Betroffenen und das Arbeitsklima sowieso nicht. Aber gut – wenn es das Management so will, kriegt es eben ein System, in dem Neid und Missgunst an der Tagesordnung sind.
Drittens ist die Annahme, dass zu jeder Zeit immer dieselbe Person die Führung übernehmen kann, einfach mal durch und durch idiotisch.
Worum geht es denn bei Führung denn überhaupt?
Denn auch, wenn Führung gerne mal wahlweise als Rolle, Privileg oder Statussymbol missverstanden wird, ist es zunächst mal eine Funktion.
Viele sagen ja, dass es ganz ohne Führung nicht geht – und auch wenn ich mir da gar nicht mal sicher bin – können wir uns darauf einigen, dass Führung durchaus nützlich ist, wenn man in einer Gruppe von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Wünschen und Interessen etwas erreichen beziehungsweise erfolgreich sein will.
Eigentlich geht es bei Führung nämlich gar nicht in erster Linie darum „etwas sagen zu haben“ (weshalb Führungspositionen ja nicht zuletzt bei uns Männern beliebt sind) oder den Kopf hinzuhalten, wenn etwas schief geht. Sondern viel mehr: etwas voran zu bringen durch proaktives Handeln, durch gutes Beispiel und indem man Orientierung gibt, was denn eigentlich die richtige Richtung ist.
Die Krux dabei ist: am Besten erfüllen kann diese Funktion der oder Diejenige, die über die beste Informationslage verfügt.
Nun wird mit Informationen in klassisch hierarchisch organisierten Unternehmen und ihren Nachahmern gerne mal gegeizt, indem zum Beispiel in manchen Gremien nur die Auserwählten teilnehmen und Informationen aus erster Hand erhalten dürfen. Doch auch das verhindert nicht, dass für manche Aufgaben und Probleme dann eben doch jemand anders als die auserkorene Führungskraft über die beste Informationslage verfügt.
Das hängt damit zusammen, dass die richtige Richtung einschlagen eben auch Kenntnis der unmittelbaren Umstände und meist eben auch Kenntnis des Terrains, also beispielsweise fachspezifisches Wissen voraussetzt. Nicht zuletzt aber auch damit, dass es die perfekte Kommunikationsstruktur, in der Verantwortungsträgerinnen immer über alle für eine Entscheidung relevanten Informationen verfügen, einfach nicht gibt.
Die logische Schlussfolgerung müsste sein, dass für unterschiedliche Aufgaben auch unterschiedliche Menschen die Führung übernehmen müssen.
Du führst, ich führe, er/sie/es führt
In der Praxis ergibt sich das oft von ganz alleine, wenn man den Leuten die Möglichkeit gibt und sie nicht klein hält.
Wir erleben das in der IT zum Beispiel bei Code-Reviews, wenn einer der erfahreneren Kollegen nicht nur sein Wissen teilt, sondern auch für eine höhere Messlatten plädiert. Wenn jemand in Diskussionen zur Umsetzung den Fokus auf das lenkt, was dem Kunden tatsächlich nützt oder auf potenzielle Gefahren oder mangelende Fokussierung (Scope-Creep) hinweist. Oder wenn jemand anregt, mal eine andere Herangehensweise auszuprobieren. Diese „Acts of Leadership“ kann und sollte jeder im Team unternehmen.
Wahr ist aber auch, dass das nicht jedem und zu jeder Zeit gleichermaßen gut gelingt.
Fraglich ist nur, ob das eine Frage des Typs ist oder eher von der Situation und der Erfahrung des Einzelnen abhängt. Weil das eben auch beinhaltet, die Leute zum Mitziehen bewegen und das gerade dann schwierig ist, wenn man „formal“ nicht in der Position ist, um Entscheidungen zu treffen. Weil man die Leute dann von seinen Ideen überzeugen muss und sie ihnen nicht einfach aufstülpen kann. Und natürlich auch, weil der Einzelne dafür ein Gefühl für das „big picture“ braucht: für das was kurzfristig Resultate verspricht, aber auch langfristig zum Erfolg beiträgt.
Das aber kann man lernen und – wenn man schon eine formale Führungskraft ist oder erfahrener im Führen ist – kann man das auch fördern. In Kanban beziehungsweise der Lean-Philosophie gibt es dafür den Grundsatz „Fördere Leadership auf allen Ebenen“.
Ich denke aber, der kann auch überall sonst Anwendung finden, wenn die Auserwählten ein bisschen von ihrer Verantwortung teilen können. 😉