In der Schule habe ich lernen eher als lästige Pflicht empfunden. Etwas, das man eben machen muss, um Noten zu schreiben, die wenigstens ganz okay sind. Heutzutage gehört es zu meinem Alltag, weil der selbst gewählte Job es eben verlangt und ich sagte es schon: ich es selbst gewählt habe.
Allerdings ist Lernen im Sinne von Wissenserwerb in der heutigen Zeit und besonders in dieser Branche nicht mal die halbe Miete. Viel mehr geht es darum, dass man gewisse Fähigkeiten erwirbt und kontinuierlich verbessert. Die Probleme der Kunden verstehen, sie zu lösen und dabei all mein gelerntes Wissen gewinnbringend anzuwenden.
Wenn man darin gut werden will oder anderen helfen will, darin gut zu werden, muss man sich mit “Deliberate practice” beschäftigen.
Was ist Deliberate Practice?
In der Psychologie bezeichnet man Deliberate Practice als “Kausalmechanismus für den Übergang eines Lernenden von einem Kompetenzstand zum nächsthöheren” – insbesondere wenn man sich schon auf einem hohen Leistungsniveau bewegt.
Einfacher: Deliberate Practice macht Kenner zu Könnern und schließlich zu Experten.
Wir brauchen Experten in unseren Unternehmen und – wenn wir ehrlich mit uns selbst sind – wollen wir doch auch ganz gerne Experten sein.
Denn Experten genießen einen guten Ruf, weil sie auch mit unvorhergesehenen Situationen umgehen und neue Lösungswege finden können.
Was macht Deliberate Practice aus?
Bei Deliberate Practice folgt man einem Muster: den gesamten Prozess in einzelne Teile zerlegen, seine eigenen Schwächen und Fehler identifizieren, neue Strategien austesten und gewonnene Erkenntnisse wiederverwerten.
Kommt euch das irgendwie bekannt vor?
1. Wenn wir lernen wollen, etwas zu tun, müssen wir handeln.
Wenn wir etwas Neues lernen wollen, können wir Bücher lesen, Podcasts hören und Videos schauen oder Seminare besuchen. Das ist alles gut und wichtig – und ich will das keinesfalls schlecht reden.
Verschiedene Strategien können helfen, ein Verständnis für die Materie zu entwickeln. Dabei kommt es auf inhaltliche Durchdringung an (was ein Thema für einen eigenen Artikel ist).
Beim Erwerb und Ausbau von Fähigkeiten kommt es allerdings vor allem auf reflektierte Anwendung an.
Niemand formuliert verständliche Sätze durchs bloße Auswendiglernen von Vokabeln. Kein Projektleiter bringt erfolgreich ein Projekt zum Abschluss, weil er den PMBOK gelesen hat – und kein Chef wird durch bloßes Lesen eines Psychologiebuchs je verstehen, wie seine Mitarbeiter ticken und was sie ticken lässt.
Man muss sich herausfordern, das Wissen praktisch anzuwenden: Sätze bilden und sprechen, kleinere Programmieraufgaben lösen, bestimmte Verhaltensweisen oder Projektmanagement-Methoden austesten.
Dabei hilft es, die zu erlernende Fähigkeit, den Gesamtprozess in einzelne Teile zu zerlege, diese Teile zu üben und zu perfektionieren. So wird ein Tischfussballer Ballhandling, Pässe und Torschüsse immer wieder üben bis sie (unter Übungsbedingungen) sitzen.
2. Feedback macht den Unterschied zwischen dem Erwerb von Wissen und dem Erwerb von Fähigkeiten
Eine Zeit lang war ich sehr motiviert, im Tischfussball gut zu werden.
Ich hatte Spaß an dem Spiel, aber ich war grottenschlecht. Also tat ich im Grunde genau das, was ich oben beschrieben habe: Ich übte Torschüsse, versuchte zu dribbeln und zwischen den Figuren zu passen. Nun bin ich ein wenig grobmotorisch veranlagt, aber …
Im Endeffekt wurde ich besser. Für manche Gegner reichte das nur einfach nicht. In komplexen Situationen reicht Training allein eben oft nicht aus.
Was den Unterschied hätte machen können: Feedback.
Damit meine ich nicht diese warmherzige, aber wenig ehrliche Variante von Feedback, bei der man jemanden auf die Schulter klopft und “Das hast du gut gemacht” sagt (auch wenn das durchaus manchmal angebracht sein kann) sondern eher die Art von Feedback, die einem Anhaltspunkte liefert wie man seine Fähigkeiten weiterbringt.
Im besten Fall beinhaltet das Feedback spezifische Informationen darüber, worin man schon gut ist und worin man sich noch verbessern kann. Dieses Wissen kann man verwenden, um wiederum neue Strategien auszuprobieren.
Oder an den Teilfähigkeiten arbeiten, die besonders schwer fallen.
3. Wir müssen Fehler machen und daraus lernen, statt Fehler zu vermeiden.
Schon klar – niemand macht gerne Fehler.
Niemand möchte derjenige sein, der einen Fehler gemacht hat, weil Fehler einen schlechten Ruf genießen. Manche glauben, dass ein Experte sich von Amateuren eben genau darin unterscheidet, nie Fehler zu machen.
Falsch.
In Wahrheit machen wir alle Fehler. Ständig. Wir übertreten Geschwindigkeitsbegrenzungen, lassen den Wagen absaufen, übersehen Stoppschilder und treten unseren Mitmenschen auf den Fuß. Wir schreiben Menschen Eigenschaften zu, die sie gar nicht haben, und überschätzen unsere eigenen Fähigkeiten, während wir die unserer Mitmenschen unterschätzen. Ja, wir löschen sogar Datenbanken mit den Daten unserer Kunden und geben unser Unternehmen damit der Lächerlichkeit preis.
Könnte dir nie passieren?
Herzlichen Glückwunsch, du bist gerade in die Falle von gleich mehreren kognitiven Verzerrungen getappt, denen wir ständig unterliegen ohne uns dessen bewusst zu sein.
In Wirklichkeit wird ein Experte erst durch Fehler zum Experten.
Der eigentliche Trick besteht darin, sich eben nicht vor Fehler zu scheuen, sondern die Realität zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Wenn wir nämlich nicht in ein Vermeidungsverhalten fallen, kommen wir erstens voran und können zweitens aus unseren Fehlern wichtige Erkenntnisse gewinnen.
Wir können bewusst versuchen, die Feedback-Möglichkeiten zu maximieren, indem wir kleinere Schritte machen und nach jedem Schritt reflektieren, was wir gut gemacht haben und wo wir noch besser werden können.
Das ist der Unterschied zwischen “Deliberate practice” und zufälligen Mitnahmeeffekten durch die so oder so auftretenden Fehler.
Übrigens gibt es viele Arten von Feedback: Ein Coach oder Sparring-Partner kann Feedback liefern, die Kollegen und Mitarbeiter, aber im Zweifelsfall tun es auch Metriken (wenn es denn die richtigen Metriken sind).
Was bedeutet “Deliberate Pratice” für Organisationen?
Die Antwort ist simpel: Einfach alles.
Wir brauchen Experten in unseren Unternehmen. Nicht nur für die technischen Themen. Wir brauchen Leute, die außergewöhnlich gut darin sind, die Anforderungen unserer Kunden zu verstehen. Oder unserer Mitarbeiter. Wir brauchen Leute, die wirklich gut darin sind, zwischen Teams und konkurrierenden Anforderungen zu koordinieren.
Reflektierte Praxis ist ein zielführender Weg dahin.
Wenn wir handeln, uns trauen Fehler zu machen und aufgrund der Fehler Strategien entwickeln, die uns weiter bringen …
Was könnte uns das bringen?
2 Replies to “Deliberate Practice: Was Kenner zu Könnern und zu Experten macht”