„So eine agile Retrospektive ist wohl eine ganz schön haptische Angelegenheit“, sagt mein Kollege zu mir, während er mir hilft, zwei aneinander geklebte Blätter Flipchart-Papier an die Wand zu pinnen. Darauf ist eine Timeline gezeichnet; wir werden sie für eine von fünf Retrospektive-Phasen brauchen.
Ich moderiere zum ersten Mal eine Retrospektive.
Das Team ist noch frisch; in der Findungsphase sozusagen. Ein paar Kollegen sind alte Hasen in der IT, andere auf dem besten Weg dorthin. Mit Zwei von ihnen habe ich in einem anderen Team schon erfolgreich Projekte durchgeführt. „Lessons learned“ am Ende eines Projekts kennen wir. Aber eine Retrospektive mitten im Projekt, trotz der bevorstehenden Deadlines?
Na klar – denke ich.
Von der strukturierten und kreativen Vorgehensweise in einer agilen Retrospektive, wie sie Esther Derby und Diana Larsen in „Agile Retrospectives: Making Good Teams Great“ beschreiben, erhoffe ich mir direkt im weiteren Projektverlauf verwertbare Ergebnisse. Und dann ist es jawohl keine verschwendete Zeit.
Auf dem Tisch liegen Post-Its und Klebepunkte, als das Team den Raum betritt. Die Teammitglieder wirken neugierig, gespannt auf das was kommt. Ich bin nervös.
Jeder soll sich beteiligen
Möglichst jeder soll sich beteiligen, deshalb soll direkt zu Anfang jeder mal zu Wort kommen.
Einen nach dem Anderen fordere ich auf, in zwei bis drei Wörtern zu sagen, was er sich von der Retrospektive erwartet. Der gemeinsame Tenor: Erkenntnisse.
Manche Antworten klingen eher fragend. Und wen wundert’s? Die Situation ist ja für alle neu. Einmal spricht einer ein bisschen länger: „Das waren jetzt aber mehr als 3 Wörter“ witzelt der Kollege neben ihm. Wir lachen – und setzen die Runde fort.
Erstmal ein gemeinsames Bild gewinnen
Schwupps. Die erste Phase ging schnell rum – jetzt wird es gleich geschäftig zugehen, denn die Timeline betritt die Bühne.
Wir betrachten einen relativ langen Zeitraum von 4 Monaten und jeder soll einen gewissen Überblick bekommen, was da alles passiert ist.
Zuvor hab ich die Timeline in vier Abschnitte geteilt und ein paar Meilensteine markiert.
Der Auftrag für das Team ist simpel: Mithilfe von verschiedenfarbigen Post-Its erinnerungswerte Ereignisse aufschreiben und auf der Timeline zeitlich einordnen. Die Farbkodierung dient der Visualisierung, ob die Ereignisse eher positiv, neutral oder negativ behaftet sind.
Bereits in dieser Phase kommen immer mal wieder kurze Diskussionen auf, zum Beispiel warum ein Ereignis von einer Person positiv und von der Anderen negativ bewertet wird.
Genau diese unterschiedlichen Sichtweisen tragen zu einem besseren Verständnis der Projektsituation bei.
Als schließlich alle Zettel hängen, fache ich die Diskussionen mit Rückfragen wie „Und? Was können wir hier erkennen?“ weiter an.
Erste Vorschläge werden gemacht, wo es Probleme gibt und woran die liegen können. Ich bemerke, dass wir sozusagen fliesend in die nächste Phase übergehen und stelle deshalb die nächste Phase vor, mit dem Hinweis, dass wir dort noch gezielter versuchen werden, Erkenntnisse zu gewinnen.
Erkenntnisse gewinnen
Für die nächste Phase habe ich eine Learning Matrix vorbereitet.
Diese hat vier Felder:
- eines für Positives, für Prozesse die wir fortsetzen wollen
- eines für Dinge, die wir ändern sollten
- ein Feld für Ideen
- ein Feld um Anerkennung auszudrücken
„Warum ist denn da ein Baum?”, fragt ein Kollege als ich die Felder erklärt habe. Ich zucke mit den Schultern: Hatte ich halt so gesehen und ein Baum ist leicht zu zeichnen. Das Team ist sich einig, dass ein Stern passender wäre. Wo es Recht hat … 🙂
Beim Bekleben mit Post-Its kommen Fragen auf: Zum Beispiel ob jeder nur soundsoviel Zettel kleben darf. Ich finde eine Begrenzung an der Stelle nicht sinnvoll und verneine. Das Team und ich fangen also an zu schreiben und zu kleben.
Mich freut, dass das Feld für Anerkennung gut angenommen wird. Der Teamleiter klebt einen Zettel auf dem “Team” steht, ein paar Einzelleistungen werden gelobt und sogar der Kunde bekommt einen Zettel.
Schließlich “clustern” wir zusammenhängende Zettel, besprechen die Zettel dabei und setzen schließlich mit Klebepunkten Prioritäten bzw. drücken Zustimmung aus.
Zeit für Entscheidungen
In der letzten Phase geht es darum Entscheidungen zu treffen.
Dafür waren die Klebepunkte eigentlich schon eine Vorbereitung, um zu filtern: Was ist uns jetzt im Moment eigentlich wichtig?
Das klappt bei diesem ersten Mal nicht so richtig oder vielleicht zeigt sich in der letzten Phase auch, was dem Team gerade wirklich am Wichtigsten ist. Jedenfalls beziehen sich die Ziele/Regeln, die wir in dieser Phase erarbeiten, mehr auf allgemeine Themen als auf die zuvor priorisieren Themen: Etwa wie man Meetings effektiv(er) gestalten oder wie das Projekt so organisieren kann, dass das Team das Große Ganze im Blick behalten kann.
Hierbei wird durchaus um Details gerungen, etwa um die ideale Sprintlänge oder ob es einen Verantwortlichen für Meetingagendas braucht. Am Ende können wir uns auf ein paar Dinge einigen, die wir einfach mal probieren wollen.
Schlussrunde und ein Fazit
In der letzten Phase ziehen wir nochmal ein Resümee über die Retro selbst. Ob sich das gelohnt hat und ob man so eine Retrospektive nochmal machen sollte.
“Das war ein überraschend produktives Meeting”, fasst es ein Teammitglied nach der Retro zusammen. Und das ist für mich auf jeden Fall ein erfreuliches Ergebnis.
2 Replies to “Agile Retrospektiven – Eine ziemlich haptisch Angelegenheit”