Wenn wir von Festpreisen reden, reden wir immer auch von Schätzungen. Aber Schätzungen sind keine exakte Wissenschaft und produzieren trügerische Zahlen. Wenn wir also über Vertragskonstrukte wie Festpreisen reden, sollten wir uns der Probleme bewusst sein – und über Alternativen nachdenken.
Wir benutzen Schätzungen, um ein Preisschild an unsere Leistung hängen zu können und weil wir dafür eine Vorstellung vom notwendigen Aufwand benötigen. Trotz aller Bemühungen bleibt eine Schätzung aber immer ungenau und ist mit zusätzlichen Risiken behaftet, die sicherlich die Meisten von uns kennen – und uns trotzdem so verhalten als wären sie nicht da.
Was sollen Schätzungen liefern?
Wenn wir mal davon absehen, dass wir unsere Leistung mit einem Preisschild versehen wollen (und aus ökonomischen Gründen auch müssen): Warum glauben wir, dass wir Schätzungen brauchen?
Wir kennen die Gründe gut und wer sich an meinen letzten Artikel erinnert, kann sie im Grunde am magischen Dreieck ablesen. Dabei besteht nur die Gefahr, dass wir die drei Faktoren als Selbstzweck auffassen statt sie als Ausdruck zugrundeliegender Zwänge und Bedürfnisse zu interpretieren.
Diese sind:
- Dauer des Projekts: Wir möchten wissen, wie lange ein Vorhaben dauert, um diese Information in die Planung unserer Gesamtstrategie einbeziehen zu können. Gleichzeitig wollen wir immer, dass das gewünschte Ergebnis so früh wie möglich eintritt.
- Kosten: Wir möchten planen können, wieviel Geld uns nach der Umsetzung eines Vorhabens noch zur Verfügung steht. Gleichzeitig wollen wir genau so viel zahlen wie für das gewünschte Ergebnis erforderlich.
Wir wissen, dass wir diese zwei Faktoren nicht vorher sagen können à la Houdini, der in seinen Hut greift und einen mit zwei exakten Zahlen beschrifteten Zettel heraus zaubert. Trotzdem müssen wir über Zeit und Kosten eine Prognose abgeben. Also greifen wir zu Schätzmethoden, in der Hoffnung das Unvorhersagbare mit einer sich wissenschaftlich anfühlenden Methode doch wenigstens näherungsweise vorher zu sagen.
Was Schätzungen wirklich liefern
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnten nicht weiter auseinander klaffen als bei dem, was Schätzungen leisten sollen und was sie tatsächlich leisten. Denn was Schätzungen tatsächlich liefern ist das Folgende:
- Das Vorhaben dauert durch die Schätzungen praktisch immer länger.
-
Das Vorhaben verteuert sich durch die Schätzungen (kostet mehr als nötig)
Schätzungen kosten auf jeden Fall Zeit, aber produzieren sie auch Wert?
Denn natürlich kostet die Schätzung an sich Zeit und produziert Aufwände, die sich irgendwo im Preis (und auf Seiten des Dienstleisters bei der Beschäftig-keit seiner Mitarbeiter) widerspiegeln. Besonders bei den sogenannten Expertenschätzungen (die ganz sicher mehr Sinn machen als jemand fachfremdes Tätigkeiten schätzen zu lassen, mit deren Art er schon nicht vertraut ist) geht dabei Zeit verloren, in denen am eigentlichen Vorhaben (oder anderen Vorhaben) gearbeitet werden könnte.
Aber produziert diese Tätigkeit auch einen Wert?
Wenn wir als Dienstleister für die Tätigkeit bezahlt werden: sicher – dann erfüllt sie zumindest für uns einen Wert (auch wenn sich für uns die Frage stellt, ob es uns das auch wert ist).
Für den Kunden, der eigentlich vom Endergebnis profitieren würde, aber wohl eher nicht. Denn die versprochene Risikominimierung ist eine Nebelkerze, die für die Senkung des Risikos versehentlich mehr als vereinbart zu zahlen dafür sorgt, dass er ziemlich sicher mehr als nötig zahlt. Nicht, weil der Dienstleister ihm Böses will oder seinen Job nicht beherrscht, sondern weil der Prozess das zwangsläufig bedingt.
Liegt der Fokus darauf beschäftigt zu sein oder das Richtige zu tun?
Für den Dienstleister stellt sich dagegen die Frage, ob er die wertvolle Zeit seiner Mitarbeiter in einen an sich wert-freien Prozess investieren möchte oder lieber mehr echten Wert auch für mehrere Kunden schaffen möchte. Diese Denkweise ist übrigens, was agilen Methoden und dem Lean-Ansatz zu Grunde liegt: sich darauf zu konzentrieren das Richtige zu tun (Ergebnisse zu produzieren, die Nutzen stiften) und dabei möglichst wenig Zeit in Dinge zu investieren, die keinen Nutzen schaffen (etwa Pläne, denen keiner folgt oder Dokumente, die keiner liest).
Was übrigens mitnichten bedeutet, dass Pläne oder Dokumentationen keinen Wert hätten. Nur bedeutet mehr eben nicht automatisch auch besser: ein Plan, der beim Kontakt mit dem Schlachtfeld zu Staub zerbröselt, hat ebenso wenig Wert wie eine Dokumentation, die keine Probleme löst oder Fragen beantwortet.
Welche Gefahren Schätzungen zusätzlich bergen
Dummerweise bergen Schätzungen zusätzliche Probleme, die insbesondere dann zum Tragen kommen, wenn wir die Schätzungen nicht nur für den Preis sondern auch für die Steuerung des Prozesses heranziehen.
Die klassische Verwendung von Schätzungen während des Projekts ist:
- Um ein Gefühl für den Projektfortschritt zu gewinnen (aka: Sind wir schon da?)
-
Um ein Gefühl für die Kosten zu gewinnen (aka: Liegen wir noch im Rahmen?)
Natürlich geht es nicht allein um ein Gefühl für Zeit oder Geld – der Projektleiter ist natürlich immer bemüht die Gleichschenkligkeit des magischen Dreiecks zu bewahren (und wenn man ehrlich ist, interessiert das auch das restliche Team).
All zu leicht hebt man Schätzungen damit auf eine Stufe mit echten Messwerten und das sind sie nun mal nicht.
Besonders ungünstig verwendet kann die Schätzung zu Dysfunktionen führen: So begünstigt der Blick auf die Schätzung als Zielmarke, dass man den zur Verfügung stehenden Zeitrahmen auch ausfüllt (Parkinsonsches Gesetz) und als Budgetlimit tritt schnell der Effekt ein, dass man Abstriche bei der Qualität macht, wertsteigernde Tätigkeiten bewusst unterlässt (wenn sie nicht zufällig im vereinbarten Rahmen liegen), oder auch nur Zeit- und Motivation raubende Diskussionen mit dem Team oder dem Kunden darüber führt.
Darunter kann die Kundenbeziehung genauso leiden wie die Motivation des Teams und letztlich leidet darunter auch immer die Produktivität.
Weitere Informationen, unter anderem zu den Problemen mit Schätzungen und mit Hinweisen auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen liefert zum Beispiel dieser Artikel bei OpenPM.
Was stattdessen?
Letztlich ist die Frage, wann etwas voraussichtlich fertig ist, trotzdem berechtigt – mit dem Finger auf die Schätzungen zeigen wird’s nicht bringen.
In der #NoEstimates-Bewegung versucht man solchen Fragestellungen einerseits mit Messungen zu begegnen, andererseits indem man sich auf regelmäßige Lieferung konzentriert und so den tatsächlichen Fortschritt so transparent wie möglich macht.
Gleichzeitig gewinnt man die Flexibilität, mit dem Kunden immer wieder abzustimmen, was gerade die höchste Priorität hat und dies bevorzugt fertigzustellen.
Messwerte und Vorhersagen
Die Messwerte, die dabei eine größere Bedeutung gewinnen, könnten Messwerte wie die Folgenden sein:
- Durchlaufzeiten: Wie lang braucht ein Ticket, eine User Story, ein Arbeitspaket bis zur Fertigstellung?
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Durchsatz: Wieviele Tickets, Arbeitspakete oder User Stories lassen sich pro Tag/Monat/Woche fertigstellen?
Wenn die Bedingungen im Team recht stabil sind (Teamgröße, Fokus auf eine überschaubare Anzahl Projekte) sollen sich damit halbwegs belastbare Vorhersagen treffen lassen – die naturgemäß ebenfalls einer gewissen Ungenauigkeit unterliegen, aber zumindest nicht auf Bauchgefühlen basieren und darüber hinaus keinen Aufwand bei den umsetzenden Kräften verursachen.
Andernfalls besteht die Möglichkeit von Schätzungen des Restaufwands im Projektverlauf – dann entfällt zumindest ein Teil der Schätzunsicherheit, da die Schätzsicherheit in dem Maße steigt, in dem wir Wissen über das Projekt erlangen.
Eine Frage des Vertrauens
Am Ende des Tages läuft es ein wenig auf Vertrauen hinaus – nämlich seinen Mitarbeitern, dem Dienstleister sowie den Regulationsmechanismen gegenüber, die einem ein agiler Prozess bietet: Vertrauen, beobachten und gegebenenfalls anpassen.
Wenn es gut läuft, kommt man schneller zu verwendbaren Ergebnissen und kann bei Änderungen der Prioritäten darauf reagieren. Andernfalls erhält mal viel schneller Wind davon und kann dann gegensteuern oder wenn nötig: die Reißleine ziehen.
Aus vertraglicher Sicht ließe sich das natürlich am einfachsten mit der Abrechnung nach „time and material“ umsetzen, aber wir wissen natürlich: das ist mit einem nicht zu vernachlässigendes Risiko für den Auftraggeber verbunden. Das gefühlte Risiko ist dabei natürlich umso stärker, wenn kein konkreter Plan für die Umsetzung existiert, auch wenn sich der Kunde den Problemen mit Plänen vielleicht sehr wohl bewusst ist.
Was gilt es bei der Vertragsgestaltung zu beachten?
Was es braucht, ist eine WinWin-Situation
Letztlich sollten wir bemüht sein, als Auftragnehmer und als Auftraggeber gleichermaßen, eine WinWin-Situation zu erreichen.
Das geht am Besten in einer eine partnerschaftliche Beziehung, in der Kunde und Dienstleister sich zusammen in einem Boot befinden, die Ziele des jeweils anderen anerkennen (gewünschtes Resultat auf der einen Seite, entsprechender Umsatz auf der anderen Seite) und darauf hinarbeiten.
Wir sollten uns fragen, welches Risiko aus Sicht des Auftraggebers am schwersten wiegt und ihn dahingehend beraten, wie man dieses Risiko minimieren oder aus dem Weg räumen kann. Gleichzeitig sollten wir aber auch einen Blick auf die andere Seite werfen: welche Vorteile könnte uns und dem Kunden ein anderes Vorgehen liefern? Umso besser, wenn wir ein Vertragskonstrukt finden, in dem wir eine Balance zwischen Chance und Risiko finden.
Die beiden gängigen Vertragskonstrukte können das nicht gewährleisten: Beim Festpreis wird das Ergebnis praktisch automatisch teurer (nur dass der Kunde den Endpreis vorher kennt) und beim „Time and material“ fehlt der Anreiz für die hohe Performance, die mit einem agilen Vorgehen möglich wäre. Mit Pech eine LoseLose-Situation, bei der weder Preis und Dauer für den Auftraggeber stimmen, noch der optimale Ertrag auf Seiten des Auftragnehmers erzielt wird.
Eine Alternative könnte beispielsweise ein Vertragskonstrukt à la „Money for nothing – change for free“ sein, aber dazu mehr im nächsten Artikel der Serie.