In den letzten Tagen beschäftige ich mich verstärkt mit der Einführung von agilen Methoden in IT-Teams und mir ist wieder einmal bewusst geworden: Agil sind die meisten Teams schon, denn der Gegenpol ist dysfunktional. Sinnvoll ist es deshalb auf vorhandenen Stärken aufzubauen und Agilität zu fördern.
Wenn wir uns fragen, ob unser Team oder unser Unternehmen Scrum, Kanban oder eine andere Methode machen sollte, machen wir (wahrscheinlich) einen Fehler. Diese Einstellung vertrete ich schon sehr lange, obwohl ich sie in dieser Klarheit vermutlich noch nie formuliert habe.
Dazu ein kurzes Gedankenexperiment:
Wie agil sind wir eigentlich?
Keine Behandlung ohne Diagnose
Ein junger Mann wacht morgens mit Brummschädel und laufender Nase auf – und geht damit zum Arzt.
Der Arzt bleibt beim Besuch des Mannes in seinem Zimmer und, ohne den Mann jemals in Augenschein zu nehmen oder seine Probleme anzuhören, schreibt er ein Rezept: eine bunte Pille drei mal täglich, abends eine Badewanne mit 37°C Wassertemperatur und morgens nach dem Aufstehen drei besonders tiefe Atemzüge. Dann sollte es dem jungen Mann in einer Woche wieder besser gehen.
Welcher Gedanke käme einem da sofort in den Sinn?
Intuitiv werden die meisten das Vorgehen wohl höchst fragwürdig finden. Denn dieser Arzt stellt keine Diagnose, sondern kommt gleich zur Behandlung. Ohne zu wissen, was dem Patienten denn eigentlich fehlt, stülpt er eine Vorgehensweise über den Patienten und hofft das Beste.
Nun könnte dieses Vorgehen bei einer Erkältung bestens passen, aber genauso gut könnte es sein, dass der Patient am Ende der Woche nicht mehr lebt.
Wir sind wahrscheinlich schon agil
Wenn wir eine agile Methode in einem Team einführen wollen, ohne uns die aktuellen Gegebenheiten und Probleme (nennen wir es: Symptome) bewusst zu machen, dann machen wir in jedem Fall einen Fehler – und übersehen eine wichtige Tatsache.
Höchstwahrscheinlich sind wir schon agil.
Denn jedes Team und jedes Unternehmen muss schon in gewisser Weise agil sein, weil es sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum länger als ein Geschäftsjahr (oder wie lange das Kapital eben reicht) überleben würde.
Was wir stattdessen machen sollten: Rausfinden, wie agil wir eigentlich schon sind und dort ansetzen.
Was bedeutet überhaupt agil?
Wenn wir mal fern ab von den ganzen Buzzwords wie Scrum, Sprint und Velocity schauen, was Agilität eigentlich der Wortbedeutung nach bedeutet – dann werden wir nämlich merken, dass das nicht mit Wasserfällen, Sprints oder nicht getaner Arbeit gleichzusetzen ist.
agil: von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig – Synonyme: vital, lebhaft, energiegeladen, beweglich
Wir sind agil, wenn wir mit der Realität umgehen können. Wenn wir auf dem Weg zu unseren Zielen, ob wir die nun in Geld oder was auch immer ausdrücken, trotz all der Schlaglöcher und Hürden voran kommen und dabei niemand auf der Strecke bleibt.
Doch ist Agilität kein binärer Zustand. Man kann nicht einfach einen Schalter umlegen und dann ist man so wendig wie ein Gepard. Und immer nur rennen, rennen, rennen – das wird unserer Vitalität nicht dauerhaft zuträglich sein.
Agilisten haben die Weisheit nicht erfunden
Wir Verfechter agiler Methoden sind entgegen des häufig anzutreffenden Schwarz-/Weiß-Denkens auch gar nicht Erfinder der Weisheit.
Ob nun PMBOK, PRINCE2 oder die IPMA Competence Baseline, also die Standards des vermeintlich klassischen Projektmanagements, sie enthalten viele sinnvolle Lösungsansätze für gängige Probleme. Wir werden sogar viele Ähnlichkeiten entdecken, wenn wir uns eingehend damit beschäftigen.
Die Probleme resultieren eher aus zwei (recht entgegengesetzten) Gründen:
- Die Methoden werden nach Gutdünken angewendet; wichtige Praktiken werden willkürlich ausgelassen, weil es irgendwie bequemer zu sein scheint oder weil wir es einfach nicht besser wissen.
- Die Methoden werden als Universalhammer angewendet ohne zu reflektieren, welche Schrauben man mit welchem Werkzeug drehen kann und welche Bedingungen es dafür braucht.
Agile Methoden machen trotzdem Sinn
Wenn wir wirklich agiler werden wollen, müssen wir den Fokus auf die Bedingungen setzen, die für erfolgreiches Arbeiten von elementarer Bedeutung sind:
- Team Health: Sicherstellen, dass die Bedürfnisse von uns und unseren Teams berücksichtigt werden, dass die Zusammenarbeit funktioniert, das Wissen möglichst gut verteilt ist; dass Entscheidungen getroffen werden, wenn sie benötigt werden.
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Product Health: Sicherstellen, dass der Kunde das bekommt, was er am dringendsten benötigt und zu dem Zeitpunkt, wo er es benötigt. Verschwendung vermeiden.
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Prozessgesundheit: Sicherstellen, dass wir Erkenntnisse aus den Ergebnissen unseres Handelns generieren, aus den Erfahrungen lernen und daraufhin die notwendigen Anpassungen vornehmen.
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Technische Gesundheit: Sicherstellen, dass wir bei aller Fokussierung auf Schnelligkeit nicht komplexe Bauwerke auf Sand bauen, ohne dafür nötige Abkürzungen hin- und wieder zu hinterfragen und auszubessern: technische Schulden abbauen.
Deshalb machen agile Methoden trotzdem Sinn: Weil sie den Fokus darauf setzen, diese Faktoren so oft wie möglich zu überprüfen und Gelegenheiten zur Anpassung vorsehen.
Trotzdem gilt: keine Behandlung ohne Diagnose.
Schon deshalb, weil es viel motivierender ist, wenn man erkennt, was schon gut ist und nur das ändert, was einem nicht gut tut.