Post mortem

Eine Geschichte über Fehler, fragile Systeme, schlechte Entscheidungen und deren Auswirkungen.

Written by Patrick Schönfeld · 4 min read >
Schatten einer Person, die fällt und auf die alle mit dem Finger zeigen

Eine Geschichte über Fehler, fragile Systeme, schlechte Entscheidungen und deren Auswirkungen.

Fassungslos starrte der Techniker auf den Bildschirm.

Es war nur ein winzig kurzer Moment, bis dem Techniker sein Fehler bewusst geworden war. Dennoch hatte das gereicht, um praktisch alle Daten dem Erdboden gleich zu machen. Der abgesetzte Löschbefehl hätte auf einem anderen System ausgeführt werden müssen, aber das wusste der Computer nicht. Der Computer hatte einfach seine Pflicht und Schuldigkeit getan und alles gelöscht, was zu löschen war. Der Computer tat das genau bis zu jenem Moment, in dem der Techniker begriff, panisch zur Tastatur griff und sich doch bewusst war, dass er nicht mehr viel retten konnte. Der Techniker war einer von denen, die wussten was sie taten, aber ein Datenforensiker war er nicht und im Moment kam er sich wie ein Idiot vor.

Der Computer war sich keiner Schuld bewusst und der Eingabeprompt blinkte vor sich hin als ob nichts gewesen wäre.

Der Schweiß auf der Stirn des Technikers und das Pochen seines Herzens sprachen eine andere Sprache. Vor allem aber die Gedanken, die ihm seitdem durch den Kopf gingen und der Situation eine Dramatik gaben, die der Computer wahrscheinlich nicht einmal verstand. Er dachte an das letzte Mal als er einen Fehler gemacht hatte, wie sein Team und sein Teamleiter reagiert hatten, wie sie gewitzelt und über ihn gespottet hatten und wie das Thema ihn selbst ein halbes Jahr später beim nächsten Mitarbeitergespräch noch sabotiert hatte. Alle wollen Leistungen, aber niemand interessiert sich für vorangegangene Leistungen, wenn du verantwortlich für so ein Disaster bist.

Wie sollte er jetzt mit der Situation umgehen?

Der Techniker blickte zur Uhr.

Kurz nach halb 10 war es als seine Karriere zerbrach und, während er sich die müden Augen rieb, erinnerte er sich, dass er auf der Bank noch Erspartes hatte. Wenn er sich beeilte und jetzt nach Hause und danach zum Flughafen führe, würde er ziemlich sicher noch einen Flug buchen können, der ihn weit weg von diesem Schlamassel bringen würde. Das Ersparte würde reichen, um ein paar Wochen über die Runden zu kommen, in denen er versuchen würde, einen Job zu erlangen, bei dem niemand nach seinen früheren Jobs, nach seinem Lebenslauf fragen würde. Er hatte keine Ahnung, was das für ein Job sein würde, ob der Job oder die Bezahlung der vielen investierten Zeit gerecht würde – der Weiterbildung in seiner Freizeit, den Überstunden wenn das Projekt wichtig war – aber es war allemal besser als die Schande zu ertragen, die ihm hier winken würde.

Bevor sie ihn rauswarfen, ging er lieber selbst.

Der Zeitpunkt, zu dem die Öffentlichkeit merkte, dass etwas nicht stimmte, ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin hatte der Techniker an einer Plattform gearbeitet, die von vielen tausend Nutzern täglich frequentiert wurde. Eben diese Nutzer begannen sich mit der Zeit zu wundern, dass die angekündigten Wartungsarbeiten viel länger als vorausgesagt dauerten. Bald schon ergoss sich deren Frustration über Twitter und die anderen Social Networks. Je länger der Ausfall andauerte, desto mehr brodelte auch die Gerüchteküche und umso schärfer wurde der Ton. Nicht lange und man vermutete, dass den Technikern ein Fehler unterlaufen war, und einige frustrierte Nutzer teilten bereits ihre Fantasien, wie sie mit den verantwortlichen Techies umgingen, wenn sie deren Chef wären. Sie schrieben wie sie ihre Macht ausspielen, die Techies demütigen und im hohen Bogen rauswerfen würden.

Das waren die harmloseren Tweets.

Als das Unternehmen schließlich eine Pressemitteilung rausgab, in der sie den Datenverlust einräumten, schlug der Ton eine wesentlich rauerere Richtung ein. Das Unternehmen hatte verlauten lassen, dass ein einzelner Mitarbeiter für das Disaster verantwortlich sei und sie in der Zwischenzeit schon die Konsequenzen gezogen hätten. Dementsprechend füllten sich die sozialen Netze mit Mitteilungen, die sich nicht direkt gegen den Techniker richten, da man ja nicht wusste wer er war, sondern viel mehr gegen den anonymen und daher gesichts- und namenslosen Trottel, der verantwortlich war für dieses Desaster. In einem der Tweets hieß es, dass so ein Idiot nie wieder in die Nähe von Produktivdaten kommen sollte, und dieser Tweet wurde von vielen geteilt und geliked. Und dann wären da noch die Tweets von Leuten, die ihm den Tod wünschten und sich gleich als Henker anboten, weil ein Idiot wie er – so die einhellige Meinung – es nicht anders verdient habe.

Nicht ganz unglücklich über die Anonymität

Der Techniker fuhr in der Straßenbahn und scrollte durch seine Timeline.

In diesem Moment war er alles andere als unglücklich über die Anonymität und trotzdem versetzte ihm jeder einzelne Tweet einen Stich. Nervös sah er sich in der Straßenbahn um. Einige Menschen wirkten verärgert und je länger er sie sich ansah, desto mehr kamen ihm deren Gesichter wie bosartige Fratzen vor, die ihn anstarrten. Er zubbelte an seinem Hemdkragen und lockerte ihn. War es hier drin wirklich so heiß und warum war die Luft so schlecht?

„Reiß dich zusammen“, sagte er zu sich selbst.

Schließlich versuchte er sich darauf zu konzentrieren, ob er die Situation noch irgendwie retten oder wenigstens ein solches Problem in der Zukunft verhindern könnte. Erneut blickte er auf sein Smartphone und wurde schließlich auf einen Artikel aufmerksam, in der ein Business-Analyst eine Schätzung der finanziellen Folgen des Vorfalls abgab. Als er die großen Zahlen las, schien es auf einmal, als wäre die ganze Welt in Bewegung. Sie drehte sich und drehte sich und er spürte wie die Benommenheit einsetzte und er beinahe das Gleichgewicht verlor. Plötzlich wurde ihm klar, dass es zu spät war, um jetzt noch umzukehren. Er blickte auf die Anzeige der Straßenbahn: noch zwei Haltestellen bis zum Flughafen.

„Was zur Hölle hast du getan?“

Die Nachricht kam von einem Kollegen, der vermutlich gerufen worden war, um die Scherben hinter ihm aufzukehren. Sie hatten hin und wieder etwas zusammen unternommen, ein Bier getrunken und Meetups besucht. Sie waren fast so etwas wie Freunde und nun, da er die Flucht ergriffen, diesen Scherbenhaufen hinterlassen und den Kollegen im Stich gelassen hatte, war vermutlich auch das vorbei. Erneut dachte er darüber nach umzukehren, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und so wenigstens zu beweisen, dass er Rückgrat besaß. Dann kam die zweite Nachricht des Kollegen, in der er mitteilte, dass das Unternehmen einen Akt von Sabotage vermutete und bereits die Polizei eingeschaltet habe.

An der nächsten Haltestelle kam der Zug quietschend zum stehen, der Techniker stolperte aus dem Zug und auf zwei Polizisten zu, die er ein paar Meter von sich entfernt in der Halle stehen sah, und traf eine letzte schlechte Entscheidung.

Dann brach das Chaos aus, als ein Schuss durch den Flughafen hallte.

Fortsetzung folgt …

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